Museumsquartier | Sammlung Felix Nussbaum
Sonntag, 7. September | 17:00 –18:30 Uhr
Gespräch + Lesung
2066: Zwischen Vision und Dystopie – Wie werden wir mit Wahrheit, Verantwortung und Krisen umgehen? – Jüdisches Kulturfestival
Israel ist der einzige Staat, dessen Gründung auf der Vision eines Romans beruht: Theodor Herzls utopische Erzählung Altneuland war die zündende Idee des Zionismus und inspirierte die Vorstellung eines jüdischen Staates in Palästina. Ab 1984 reagiert die israelische Literatur zunehmend auf politische Radikalisierung und die wachsende Ernüchterung über das Scheitern der zionistischen Gründungsvision – es entstehen Dystopien, die von militärischer Repression, religiösem Fanatismus und gesellschaftlichem Zerfall geprägt sind.
Für Assaf Gavron spiegelt dieser Wandel neue kollektive Ängste; Literatur wird zum Analyseinstrument gesellschaftlicher Brüche. Gavron nutzt Utopie und Dystopie als Formen jüdischer Selbstreflexion, verknüpft Gegenwartsdiagnose mit Zukunftsentwurf. Für ihn ist Literatur ein Labor möglicher Wirklichkeiten – umso dringlicher in Zeiten wie nach Corona und dem 7. Oktober 2023.
In seinen beiden Erzählungen aus dem Band Everybody be cool treibt Gavron diese Reflexionen weiter. Mit spekulativer Schärfe stellt er die Frage, wie unsere Gesellschaften auf Krisen reagieren – und wie sich Wahrheit, Verantwortung und Wirklichkeit in technologisch transformierten Welten verschieben.
In der dystopisch-futuristischen Erzählung Everybody be cool gerät eine junge Frau während einer Pandemie in der virtuellen Warteschlange vor einem Bankschalter in eine Situation, als ein „Banküberfall“ geschieht – ein Begriff, der in ihrer durchdigitalisierten Welt längst vergessen ist. Mithilfe einer KI namens Eiser versucht sie zu begreifen, was überhaupt geschieht – doch je mehr sie forscht, desto unklarer wird, was real ist und was simuliert.
In Zement wird der Protagonist Ami im Jahr 2066 in seine Heimatstadt Dimona zurückgerufen. Der Nahe Osten ist Teil eines neuen Staatenverbunds, Umweltkatastrophen und Automatisierung haben die Gesellschaft grundlegend verändert. Als sein Vater, ein Unternehmer mit sozialistischen Ambitionen, schwer erkrankt, steht Ami vor einer Entscheidung zwischen familiärer Loyalität und kollektivem Gemeinwohl…
Beide Texte entwerfen Zukunftsszenarien, die weniger Antworten geben als grundlegende Fragen stellen: Was bleibt vom Humanen in einer automatisierten Welt? Wer trägt Verantwortung in einer fragmentierten Realität? Und was ist die Rolle der Literatur in einer Zeit, in der selbst Wirklichkeit zur Verhandlungssache wird?
Assaf Gavron, 1968 geboren, wuchs in Jerusalem auf und studierte in London und Vancouver und lebt heute mit seiner Familie in Tel Aviv. Er hat mehrere Romane und einen Band mit Erzählungen veröffentlicht und ist in Israel Bestsellerautor. Assaf Gavron hat u. a. Jonathan Safran Foer und J. D. Salinger ins Hebräische übersetzt, ist Sänger und Songwriter der israelischen Kultband The Mouth and Foot und hat das Computerspiel Peacemaker mitentwickelt, das den Nahost-Konflikt simuliert. Sein jüngstes Buch Everybody be cool ist im Frühjahr 2025 im Luchterhand Literaturverlag erschienen.
Weitere Infos unter https://www.juedisches-kulturfestival.de/
